Kellrun

Der erste Rauriker

In den alten Zeiten, als die Nebel noch schwer auf der Welt lagen und die Lande jung und ungezähmt waren, wurde die Schöpfung selbst zur Bühne für mächtige Wesen und unsterbliche Legenden. Die Berge, die wie die Rippen der Erde emporragten, und die Wälder, grüne Meere aus Eichen und Buchen, waren nicht nur Heimat für Tiere, sondern auch für Wesen von mythischer Herkunft. Hier wandelten die ersten Geschöpfe, geboren aus Gaias Atem, und unter ihnen auch die uralten Widersacher Rauros, der silberweiße Waldlöwe, und Borgrimm, der schwarze Bär.

Eine schicksalhafte Begegnung

In jenen Tagen trug Gaia die ersten Menschen auf die Erde, geboren aus dem Lehm ihrer Täler und dem Atem des Himmels. Sie waren mutig und klug, die Kelten, und sie kämpften um ihren Platz in einer Welt voller ungezähmter Kräfte. Unter ihnen erhob sich Kellrun, der "geheimnisvolle Wächter", der erste seines Volkes. Groß war er von Gestalt, seine Stimme klang wie das Rauschen der Winde, und sein Blick war scharf wie der eines Falken.

Eines Tages, als die Sonne tief stand und das goldene Licht die Wälder färbte, wanderte Kellrun allein durch die uralten Reiche des Waldes. In den Schatten der mächtigen Bäume hörte er ein Grollen, das die Luft erzittern ließ. Vor ihm, in einer Lichtung, stand ein Nachfahre Borgrimms, ein schwarzer Bär von monströser Größe, dessen Augen glühten wie Kohlen. Der Boden bebte unter seinen Schritten, und sein Atem ließ Nebelschwaden aufsteigen.

Kellrun wusste, dass er einem Wesen von unermesslicher Macht gegenüberstand. Doch seine Furcht währte nur einen Herzschlag lang. Mit seiner Bronzeklinge in der Hand trat er dem Untier entgegen. Der Kampf, der folgte, war einer, der die Bäume der Wälder zum Zittern brachte. Der Bär schleuderte seine gewaltigen Pranken, riss tiefe Furchen in den Boden und traf Kellrun mit einer Wucht, die Knochen hätte zerbrechen können. Doch der Mensch, klein im Vergleich zu der Bestie, wich mit Geschick aus, seine Augen suchten die Schwächen des Bären.

Das göttliche Zeichen

Mit einem letzten, mächtigen Stoß stieß Kellrun seine Klinge in des Untiers Herz. Das Tier bäumte sich auf, ein Brüllen, das die Himmel zerriss, und dann fiel es, schwer wie ein Fels. Doch kaum war Borgrimms Nachkomme gefallen, öffneten sich die Schatten des Waldes, und eine leuchtende Gestalt trat hervor. Rauros, der silberweiße Waldlöwe, dessen Fell im Mondlicht schimmerte wie Sternenstaub, näherte sich dem erschöpften Krieger.

Mit einer Stimme, die wie ein fernes Donnergrollen klang, sprach Rauros:
„Du, Mensch, hast das Herz eines Löwen bewiesen. Dein Mut und dein Geschick haben dich nicht nur gerettet, sondern auch die Balance dieser Lande gewahrt. Ich, Rauros, der Hüter dieser Wälder, nehme dich unter meinen Schutz. Du sollst der Erste sein, aus dessen Blut ein Volk hervorgeht, das in meinem Zeichen leben wird. Euch soll man die Rauriker nennen, die Kinder des silbernen Löwen.“

Die Erneuerung des Bundes

Rauros senkte seinen Kopf, und sein silberner Atem umgab Kellrun. Als das Licht verblasste, waren seine Wunden geheilt, und auf seiner Stirn leuchtete das Zeichen des Löwen, eine Spur aus Licht, die nie verblassen sollte. „Dies ist das Zeichen meines Bundes mit dir und deinem Volk. Bewahrt es und schützt die Balance, wie ich es tue.“

Kellrun kehrte zu den Seinen zurück, und sein Name hallte durch die Täler und Berge. Von jenem Tage an lebten die Rauriker unter dem Zeichen des silbernen Löwen, als Hüter der Lande und Verteidiger des Gleichgewichts. Noch heute erzählt man sich, dass in den Stunden der größten Not Rauros selbst wieder erscheinen wird, um das Volk seiner Wahl zu leiten – wie er es einst mit Kellrun tat.