In längst vergangenen Zeitaltern, als die Götter und ihre uralten Nachkommen noch unter den Sterblichen wandelten, herrschte Cernunnos, der Gehörnte Herr der Wälder, über die lebendige Wildnis. Er war der Hüter allen Lebens, das in den Schatten und Lichtungen des Waldes gedieh, der Schöpfer der Kreisläufe von Geburt und Tod. An seiner Seite war Rauros, der silberweiße Löwe, eine Verkörperung reiner, göttlicher Macht und Schönheit.
Rauros war kein gewöhnliches Geschöpf. Sein Ursprung lag in den gewaltigen Kräften des Himmels, geboren aus dem Zorn der Blitze und der Urkraft des Donners. Sein Fell schimmerte wie reines Silber, ein Mantel, der selbst in der tiefsten Finsternis das Licht des Mondes einfing. Seine Augen funkelten wie Sterne, uralte Weisheit und Wildheit in ihnen vereint. Seine mächtigen Pranken trugen Krallen, scharf wie die Klingen der besten Schmiede, und seine Fänge waren der Schrecken der Schatten, in denen sich das Böse verbarg.
Wo Cernunnos seine Wilde Jagd anführte, war Rauros der unerschütterliche Wächter. Der Löwe war ein Symbol des Lichts, ein Wesen von unbändiger Kraft, das die dunklen Mächte in Schach hielt. Doch wo Licht scheint, da lauert immer die Dunkelheit, und so war es auch hier.
Tief in den unberührten Wäldern, jenseits der Lichtungen, wo das ewige Zwielicht herrschte und ein Nebel wie ein Schleier die Erde bedeckte, hauste Borgrimm, der schwarze Bär. Er war der Schatten, der Gegenspieler des Lichts, ein Geschöpf der Finsternis und des ungezähmten Zorns. Sein Fell war tiefschwarz, als habe die Nacht selbst ihn erschaffen, und seine glühenden Augen brannten wie Kohlen im Dunkel. Seine Klauen, so groß wie Speerspitzen, konnten selbst die ältesten Bäume zerschmettern, und sein Grollen ließ die Erde erbeben.
Borgrimm war Rauros’ ewiger Rivale, und die Fehde zwischen Löwe und Bär begann mit den ersten Tagen der Welt. Ihre Kämpfe waren nicht bloß Auseinandersetzungen zwischen zwei mächtigen Geschöpfen, sondern Verkörperungen des uralten Konflikts von Licht und Schatten. Wenn ihre Wege sich kreuzten, tobte die Erde. Bäume zersplitterten, Felsen wurden zerbrochen, und der Himmel verdunkelte sich vor dem Zorn dieser beiden Giganten.
Doch so erbittert sie kämpften, keiner vermochte den anderen zu überwinden. Ihre Kräfte waren gleich, ihr Zorn unermüdlich, und so endeten ihre Gefechte stets ohne Sieger. Erschöpft, von Wunden gezeichnet, zogen sie sich in ihre Reviere zurück, nur um eines Tages erneut aufeinanderzutreffen.
Selbst der Tod konnte ihren Kampf nicht beenden. Die alten Weisen erzählen, dass Rauros und Borgrimm, als sie ihr irdisches Leben hinter sich ließen, in die Gefilde der Götter aufstiegen. Dort führen sie ihre uralte Fehde fort, ihr Konflikt in die Unendlichkeit getragen.
Noch heute erinnern uns die Gewitter, wenn der Himmel von Blitzen zerrissen wird und Donner über die Berge rollt, an den ewigen Kampf dieser beiden Mächte. Licht und Dunkel, Löwe und Bär, Rauros und Borgrimm – sie stehen für den ungezähmten Willen der Natur, ein Symbol für die unaufhörliche Auseinandersetzung zwischen den gegensätzlichen Kräften, die die Welt formen und erhalten.